Die prozedurale Erinnerung – Was ist das eigentlich?
Unser Körper und hier im Speziellen unser Gedächtnis ist wirklich ein Wunderwerk. Von einem Kurz- und einem Langzeitgedächtnis, von Erinnerungen im Allgemeinen hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Du fragst Dich jedoch gerade, was eine prozedurale Erinnerung ist? In diesem Beitrag erfährst Du alles, was in diesem Kontext interessant und wichtig zu wissen ist und vor allem, was das Ganze mit Trauma zu tun hat. Also – los geht´s:
Was bedeuten die Worte prozedural und Erinnerung konkret?
Der Begriff prozedural beschreibt Vorgänge oder auch Abläufe. Also wie läuft eine Sache konkret ab? Wie steige ich eine Treppe? Wie öffne ich eine Dose? Wie lege ich mich ins Bett. Leichter verständlich ist es, wenn wir das Wort Prozedur verwenden. Wie geht sie – die Prozedur, sich ins Bett zu legen? Ganz bestimmte Bewegungen oder Verhaltensweisen bilden den Prozess.
Das Spannende daran ist, dass wir alle genau wissen, wie wir das machen – ohne in dem Moment, wo es geschieht beschreiben oder sagen zu müssen und letztlich auch nicht immer zu können, wie es eigentlich geht. Wir machen das einfach. Hierbei geht es nicht allein um körperliche Bewegungen sondern auch um emotionale Reaktionen oder gewisse Verhaltensweisen, die automatisch bei uns ablaufen, wenn Situation xyz eintrifft. Wenn wir also zum Beispiel erfahren, dass eine Person verstorben ist, nehmen wir behutsam Anteil. Im Gegenzug lachen wir uns schlapp, wenn der Komiker auf der Bühne einen Witz nach dem anderen reist.
Diese Vorgänge, man könnte auch sagen, diese Routinen laufen automatisch, sie sind als Automatismen im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Deshalb spricht man hier auch vom prozeduralen Gedächtnis.
Was ist das prozedurale Gedächtnis?
Das prozedurale Gedächtnis wird auch Fertigkeitsgedächtnis genannt und ist ein Teil vom Langzeitgedächtnis. Dieses befindet sich an verschiedenen Stellen im Gehirn beziehungsweise werden verschiedene Anteile des prozeduralen Gedächtnisses aus verschiedenen Hirnarealen bedient. So ist es ein Unterschied, ob es um eine motorische Fertigkeit, das heißt eine körperliche Bewegung wie Treppe steigen geht. Hier ist in jedem Fall das Kleinhirn in seiner Funktion der Koordinierung von Bewegungsabläufen beteiligt.
Geht es andererseits um Sinneseindrücke wie Gerüche oder Geräusche, die wiederum Handlungen oder bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen, so werden wir bei Brandgeruch sofort orientierend suchen, wo sich die Geruchsquelle oder eben der Gefahrenherd befindet. Hier wird in jedem Fall der Hirnstamm involviert werden, um zu beurteilen, ob Gefahr besteht und ob Flucht ergriffen werden muss oder ob sich ein anderes in uns gespeichertes Notfallprogramm wie Kampf oder Erstarrung eintritt.
Das prozedurale Gedächtnis wird vor allem durch sogenanntes implizites Lernen und Wissen gespeist. Unter implizitem Lernen oder Wissen versteht man die körperinnewohnenden und verinnerlichten Fähigkeiten, Dinge spontan ausführen zu können ohne sich währenddessen Handlungsabläufe vor´s innere Auge zu holen und auch nicht holen zu müssen. Das könnte zum Beispiel das Schälen von Kartoffeln, Auto fahren oder Haare waschen sein.
Kaum einer würde sich wohl sagen: Jetzt drehe ich meinen Kopf, schaue auf den Griff des Schrankes, greife nach ihm und öffne das Gemüsefach und hole dort die Kartoffeln raus. Dann mache ich einen halben Schritt zurück und öffne mit der rechten Hand von unten greifend die Besteckschublade. Wenn sie auch nur ein kleines Stück offen ist, beginnen meine Augen von links nach rechts in dieser Schublade den türkisfarbenen Kartoffelschäler zu suchen und sobald sie ihn entdeckt haben, greifen die Finger der rechten Hand diesen Kartoffelschäler.“
Bekommst Du eine Idee, was das prozedurale Gedächtnis ist? Die Inhalte dieses Gedächtnisses laufen zumeist unbewusst und unentwegt ab. Häufig ziehen prozedurale Handlungen und Verhaltensweisen auch weitere unbewusste, also ebenfalls prozedural ablaufende Reaktionen nach sich.
Vielleicht ist das ja ein Teil dessen, was wir als höheres Wissen bezeichnen?
Um es nochmal kurz zusammenzufassen. Das prozedurale Gedächtnis meint das Behalten von Bewegungsabläufen oder Verhaltensweisen ganz unabhängig von bewusster Erinnerung. Es speichert unser Können ohne bewusste Erinnerung an die gemachte Erfahrung.
Was ist eine prozedurale Erinnerung?
Im Gegenzug zum prozeduralem Gedächtnis sprechen wir zusätzlich von einer prozeduralen Erinnerung. Diese wird implizit also nicht willkürlich abrufbar gespeichert. Implizite Erinnerungen sind unbewusst. Unser ganzes Leben lang machen wir Erfahrungen und sammeln damit implizite Erinnerungen – diese wiederum werden im Langzeitgedächtnis und hier im prozeduralen Gedächtnis gespeichert.
„Implizite Erinnerungen lassen sich nicht gezielt abrufen und sind auch nicht über eine „träumerische“ Rückbesinnung zugänglich. Vielmehr steigen sie in Form einer Collage von Körperempfindungen, Emotionen und Verhaltensweisen in uns auf.“
(Peter Levine / aus: Trauma und Gedächtnis)
Geraten wir bei diesen Erfahrungen in Gefahr zum Beispiel weil wir als Kind in einen Autounfall verwickelt wurden und weil der Retter fürchterlich nach Tabak roch, verknüpfen wir Autos, Tabak und Männer fortan vielleicht mit einem unbehaglichen Gefühl. Vielleicht mit Angst oder später folgt daraus möglicherweise eine Vermeidungsstrategie.
Mittlerweile weiß man, dass diese Erinnerungen verschiedene Qualitäten beinhalten können. Wir speichern Bilder, Bruchteile von Bildern, innere Filmsequenzen. Geräusche, Gerüche, Körperempfindungen, Bedeutungen und Gefühle. Da diese nicht willkürlich zugängig sind, wirken vor allem traumatische Erlebnisse in einer nahezu überwältigenden Weise.
Erinnerungen sind Teil vom Gedächtnis. Prozedurale Erinnerungen sind Teil vom Langzeitgedächtnis.
Was hat eine prozedurale Erinnerung mit Trauma zu tun?
Wenn es um Alltagsabläufe geht, so sind prozedurale Erinnerung eine sehr ökonomische Einrichtung unseres Gehirns. Ohne ständig wieder überlegen zu müssen, wie das alles nochmal ging oder funktionierte, laufen Handlungen automatisch ab.
Interessant wird es, wenn, wie oben bereits erwähnt, eine Erinnerung mit einem traumatischen Ereignis verknüpft ist. Dann werden sich möglicherweise verschiedene Handlungsweisen anhand dieser nicht unbedingt guten Erfahrung ausrichten. Das hat sehr wohl Einfluss auf unser Alltags- Freizeitverhalten.
Zu diesem Thema plaudere ich gern aus meinem eigenen Nähkästchen. Was war passiert?
Vor vielen Jahren stürzte ich recht banal aber doch folgenschwer mit meinem Fahrrad. Unterwegs auf einem schönen aber eben doch nicht asphaltierten sondern eher befestigtem Waldweg rutschte ich mit dem Hinterrad weg und stürzte auf den Waldboden. Für einen Moment blieb mir die Luft weg, ich erstarrte und als ich wieder atmen konnte, realisierte ich, dass da leider ein kleiner Knochen an meiner Hand nicht mehr so aussah wie vorher. Klar – die Hand war gebrochen. Das wusste ich weit bevor ich dann zur klärenden Röntgenaufnahme im Krankenhaus ankam.
Alles nicht lebensgefährlich aber immerhin ausreichend eindrucksvoll für mein implizites Gedächtnis fortan allgemein Situationen wo Stürzen möglich wäre, als megagefährlich einzustufen.
Ende vom Lied war, dass ich für eine kurze Zeit Fähigkeiten verlor, die bis dato nie ein motorisches Problem dargestellt hatten. Du kennst vielleicht die Wanderwege in der Sächsischen Schweiz. So ab und an muss man da mal über eine Felsspalte springen – ich habe es einfach nicht mehr gekonnt. Ich habe mich nicht getraut und ich hatte überhaupt keinen Antrieb – noch viel mehr – ich fühlte eine richtiggehende Starre in mir, es auch nur ansatzweise zu probieren. Ich stand wie versteinert vor diesen kaum einen Meter breiten Spalten und habe mir nicht getraut einen wie sonst spielerisch üblich großen Satz zu machen um diese Stelle zu passieren. Da hat mein implizites Gedächtnis wohl ganze Arbeit geleistet.
Unfassbar eigentlich. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen – vielmehr mit meinem eigenen Körper erlebt, ich hätte es fast nicht glauben wollen, dass das Eine mit dem anderen zu tun hat.
Glücklicherweise befand ich mich zu der Zeit gerade in der Weiterbildung des Somatic Experiencing® und konnte leibhaftig erleben, wie durch eine entsprechende Traumatherapie meine motorischen Fertigkeiten wieder zurückkehrten. Heute schmunzle ich manchmal, wenn ich über diese Spalten springe und bin gleichzeitig tief berührt – wie plastisch, wie dynamisch, wie lernfreudig und regenerativ letztendlich unser Gehirn ist.
Eins bleibt und das muss man fairerweise auch immer und immer wieder erwähnen. Und sei es noch so klein das Trauma – hinterher wird es nicht, wird es nie mehr so sein wie vorher. Ganz besonders meine Unbefangenheit auf Waldwegen kopflos Rad zu fahren ist nie wiedergekehrt. Sicherlich etwas, womit man leben kann – aber mit dem Ende der körperlichen Unversehrtheit endet ein Stück weit auch die Unbeschwertheit. Gerade in der Traumaarbeit ist dieser Teil ein Prozess, der Bewusstsein über die eigene Situation, das Leben und darüberhinaus das Verständnis über die Dinge erfordert.
Die prozedurale Erinnerung in therapeutischen Sitzungen
In meiner Arbeit als Ostepathin und Traumatherapeutin erlebe ich häufiger, dass Menschen in Momenten des Gehaltenseins, des Entspannens und damit in Zeiten der Verarbeitung alter Prozesse – ihre im Körper gespeicherten Traumen nochmal erleben.
In seinem Buch: „Trauma und Gedächtnis“ führt Peter Levine die Charakteristik von prozeduralen Erinnerungen aus. Neben erlernten motorischen Fähigkeiten, existieren Muster von Annäherung und Vermeidung sowie Automatismen, die rein dem Überleben dienen sollen. Hierzu zählen Kampf, Flucht und Schockstarre.
Obwohl sie sich bewusst nicht an den genauen Ablauf erinnern, kommen den Menschen innerhalb der Behandlung diese impliziten Erinnerungen in Form von Bildern, Bruchteilen von Bildern, Filmsequenzen. Manchmal gibt es Entladungen in der Muskulatur, dann erfolgt ein Zucken oder der Körper vollzieht Bewegungen ohne das derjenige genau wüsste, was da geschieht. Es scheint, als wolle Körper oder Extremität vollenden, was damals nicht zur Vollendung gebracht werden konnte. Manche erinnern während dieser Sitzungen Gerüche, Geräusche, es kommen Gedanken, Worte und gern nutzen wir dann das Geschehen und vollenden die traumatischen Sitzungen. Beenden Dialoge, vollziehen Abwehrbewegungen, lassen Stürze ausrollen oder oder oder.
Die hohe Kunst in der Abwicklung des durch Trauma irritierten prozeduralen Gedächtnisses besteht in der Geduld, das Körpersystem gewähren zu lassen. Den Prozess möglichst nicht durch neue, eingengende, wertende oder gar bremsende Fragen und Impulse zu unterbrechen.
Trauma braucht Halt. Und so brauchen implizite Erinnerungen einen Raum, wo sie gehalten werden können und wo die Möglichkeit besteht – zu verstehen, dass die schlimme Zeit von damals wirklich vorbei ist. Traumaarbeit ist facettenreich – die Arbeit mit den impliziten Erinnerungen ein Teil.
Jedes Traumageschehen ist anders. Jeder Lebensverlauf nach einem Trauma variiert. Allgemeingültigkeiten gibt es keine. Allenfalls ähnliche Gefühle oder ähnliche Verhaltensweisen. Menschen nach Traumatisierungen haben häufig Ängste, viel zu hohe Muskelspannung und zeigen bewusst oder unbewusst Vermeidungsverhalten. Diesen Strategien, den Verquickungen der impliziten Erinnerungen auf die Spur zu kommen ist manchmal knifflig. Oft überschattet von rigide festgefahrenen Mechanismen des Überlebenskampfes aber eines muss und darf man sich auch hier immer wieder vor Augen führen:
Jede Erfahrung kann im Hier und Jetzt neu verhandelt werden.
Autorin: Sandra Hintringer (Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Osteopathie & Traumatherapie in Potsdam, Buch- und Blogautorin)
Quellen:
1. Wiktionary – https://de.wiktionary.org/wiki/prozedural
2. Lehrbuch Psychologie Springer – https://lehrbuch-psychologie.springer.com/glossar/implizites-ged%C3%A4chtnis-prozedurales-ged%C3%A4chtnis-implicit-memory
2 Kommentare
Sehr eingängig und verständlich beschrieben, danke dafür. Ich setze mich seit einiger Zeit mit (meiner persönlichen)Traumaintegrarion auseinander, mit SE und NARM mache ich erstaunliche Erfahrungen von Transformation. Als Krankenschwester in der Psychosomatik musste ich feststellen, das Traumainformiertheit noch sehr wenig angekommen ist . Kognitiv den Themenkomplex zu begreifen, ist mir ein Bedürfnis und stärkt zusammen mit der Erlaubnis und der Öffnung für das Fühlen der Vorgänge in meinem eigenen Körper, mein Verständnis und mein Mitgefühl für mein jüngeres Selbst.
Hatte letztes Jahr das Glück, im Schloss Tempelhof drei Module einer Fortbildung mitmachen zu können „traumainformierte Gemeinschaft“ eine wunderbare, an Einsichten reiche Erfahrung. Ich erlebe es als sehr motivierend auf die Spur der Selbst – und Coregulation gefunden zu haben und zu erfahren das über das Nervensystem Traumalösung möglich ist.
Habe mich grade aufsieht Suche gemacht, eine Jahresgruppe für das persönliche Weiterarbeiten mit dem Thema zu finden.
Hallo Hanna – vielen Dank für diesen wunderbaren Kommentar. Wie schön, dass Du das NARM und auch das SE für Dich entdecken konntest. Ich wünsche Dir weiterhin gute Erfahrungen. Lg Sandra